Montag, 16. Dezember 2013

Land der Kreuzsteine

Nicole Quint

Armenien ist mehr als nur Kathedralen, Radio-Eriwan-Witze und Noahs Pudding. Besuch in einem unbekannten Land – und beim Katholikos, Oberhaupt der Kirche
Hier landen Hoffnungen und Wünsche im Taubenschlag. Nur 1000 Dram, umgerechnet zwei Euro, kostet es, damit ein Käfig geöffnet, ein schneeweißes Täubchen gegriffen und in die Hände von Brautpaaren, Schulkindern oder Touristen gelegt wird, auf dass sie ihre Träume mit dem Vogel fliegen lassen. Eine Bitte erfüllt sich auf diesem Weg garantiert, bedankt sich der Taubenbesitzer mit goldzahnblitzendem Lächeln für das gute Geschäft. Im Hauptberuf sind sie Souvenir- oder Ticketverkäufer, stehen mit ihrem Nebenerwerb aber in der ehrenvollen Nachfolge eines biblischen Stammvaters. Noah soll der Erste gewesen sein, der in dieser Gegend eine Taube auf die Reise schickte. Mit seiner Arche während der Sintflut auf dem Gipfel des Ararat gestrandet, entsandte er eine Taube als Kundschafter. Als diese nicht mehr zu ihm zurückkehrte, schaute Noah selbst nach und rief "Yerevats" – "Ich sehe Land". Auf ebenjenem Stück Erde soll die Stadt Eriwan, auch Jerevan genannt, errichtet worden sein.
Eriwan – das ist für viele auch nur ein Name wie Mongrovia oder Holzkirchen – bloße Punkte auf der Landkarte, zu denen es in unseren Köpfen keine Bilder gibt, sondern höchstens Witze – wie die Scherze von Radio Eriwan über Parteiführung, Korruption oder Mangelwirtschaft in sozialistischen Zeiten. Frage an Radio Eriwan: "Was ist eine Sprotte?" Antwort: "Ein Wal, der im Kommunismus angekommen ist."
Heute wünschten sich nicht wenige Armenier die Sprotten zurück. Die alten Zeiten waren nicht gut, in ihrer Erinnerung aber allemal besser als die Gegenwart mit einem Durchschnittslohn von umgerechnet 250 Euro im Monat. Ihr Land steckt im Transit fest – aufgebrochen, aber längst nicht angekommen. 1991 trat Armenien aus der Sowjetunion aus und in den Kapitalismus ein. Noch hustet der Sozialismus über Eriwans Plätze und breit angelegte Boulevards, noch hockt er mit Alten und Arbeitslosen vor den Hauseingängen der Plattenbauten und klebt nostalgisch an "Mutter Armenien", einer Statue im klotzigen Ostblockformat. Neben den Requisiten der Sowjetzeit gibt es aber auch Nobelhotels, Bars und Boutiquen an der Abovjan, Eriwans Haupteinkaufsstraße.

Wer spüren möchte, was Armenien zu verlieren hat, muss weg von Eriwans Allerwelt-Bars und dem Einheitssortiment seiner Supermarktketten, weg von kulturellen Prestigeprojekten und den Protzbauten der Oligarchen, dahin, wo Armenien unverwechselbar ist, aufs Land und in die Dörfer. Über löchrige Straßen fährt man zu den Basaltstelen der Azat-Schlucht oder den bewaldeten Berghängen des Nordens, vorbei an jesidischen Schafhirten und Buswracks am Straßenrand. Und überall stehen sogenannte "Chatsch'khare": Das sind prachtvolle Kreuzsteine, eingemeißelt in bunte Tuff-, Basalt- und Sandsteinblöcke. Klein, unscheinbar und halb zerfallen manche, andere ehrfurchtsvoll groß, mit Mustern so fein, als wären sie nicht gemeißelt, sondern geklöppelt. Mehrere Tausend dieser steinernen Symbole des Christentums gibt es in Armenien. Die ältesten halten sich seit dem 5. Jahrhundert aufrecht, und alle sind so verschieden wie die Künstler, die sie einst schufen. Von einem der Kreuzsteine lacht Jesus mit langen geflochtenen Zöpfen und Schlitzaugen. Der Steinmetz mag gehofft haben, dass das mongolische Aussehen des Gottessohns einfallende Horden aus Asien davon abhält, seine Arbeit zu zerstören. Hat geklappt, den Stein gibt es noch.
In der Nähe dieses Kreuzsteins steht eine alte Frau im lila Kittel und hält ihren Enkel an der Hand. Das Kind presst ein Comic-Heft wie ein Schild vor die Brust. Die Verschlossenheit der Armenier ist ein nationales Erbe, ihre misstrauische Haltung verkörperte Geschichte. Jeghern, Aghetigoti und Asatamartik – Völkermord, Katastrophengebiet und Befreiungskämpfer, hinter diesen drei Begriffen steht der Genozid von 1915 an 1,5 Millionen Armeniern, das schwere Erdbeben von 1988 und der Kampf mit Aserbaidschan um das armenisch besiedelte Berg-Karabach.
Als hätten sie geahnt, dass die Geschichte ihnen einen festen Glauben abverlangen würde, führten die Armenier im Jahr 301 n. Chr. ihren Glauben als Staatsreligion ein. Weil dem armenischen Volk das Christentum von den Aposteln gebracht wurde, nennt sich die armenische Kirche "apolostisch". Damit wurden die Armenier zum ältesten Christenvolk der Welt. Gerade Italiener besuchen das Land auch deshalb so gern, um sich in Edschmiatsin den Sitz des Katholikos anzuschauen, des Oberhaupts der armenischen Kirche. Die Kathedrale wird als der älteste christliche Ort Armeniens verehrt.

Mit alttestamentlichem Gesicht unter schwarzer Kapuze spendet der Katholikos den Segen, vollkommen ungerührt von einem Crescendo aus Kameraklicken, mit dem seine Gläubigen ihn hochauflösend verpixeln. Armenier achten Autoritäten, aber sie zeigen sich nicht als sündige Selbstbeschuldigte, die bußbereit auf Knien rutschen oder sich auf den Boden werfen. Erst wird vor dem Altar gebetet, dann geschwatzt. "Gott darf ruhig alles hören, wir sind mit ihm per Du", sagt eine Reiseleiterin und überlässt es ihrer Gruppe zu überlegen, von wem Gott sich wohl siezen lässt.
Viele Wochen könnte man durch Armenien reisen und würde doch immer wieder neue Kirchen, Klöster und Kreuzsteine entdecken, ein endloser Refrain des Glaubens. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung sehen Armenier Kultur und Identität ihres Volkes in ihren religiösen Bräuchen gestärkt, und das größte religiöse Ereignis im Jahr ist das Weihnachtsfest. Schon die Vorweihnachtszeit ist in Armenien doppelt so lang wie die Adventszeit. "Hisnag" (übersetzt: fünfzig) wird die 50-Tage-Zeit auch genannt. Sie endet am 6. Januar. Bis ins 5. Jahrhundert hinein feierten alle Kirchen Weihnachten an diesem Tag, Armenier führen diesen Brauch fort.
Zu den traditionellen Festtagsspeisen gehört Anuschabur, ein Dessert, das auch Noahs Pudding genannt wird. Die dazugehörige Legende geht so: Nachdem Noah mit der Arche auf dem Berg Ararat gestrandet und die Sintflut vorüber war, wollte er ein Festmahl zubereiten. Viele Vorräte waren ihm nicht geblieben, und so nahm er getrocknetes Obst, Weizen, Hülsenfrüchte und Zucker. In Erinnerung an Noahs Improvisationstalent servieren armenischen Christen die Süßspeise zum weihnachtlichen Festessen. Es ist der kulinarische Teil einer Tradition, die seit Armeniens Unabhängigkeit von Jahr zu Jahr bedeutender wird. Religion verspricht dem ältesten Christenvolk der Welt ein Gegengewicht gegen Kapitalismus und Korruption.
"Wir sind ein kleines Volk, aber wir haben eine eigene Sprache und unsere Religion", sagte der Taubenzüchter. Es ist die immer gleiche Beschwörungsformel, die den Armeniern Zuversicht gibt. Auch der Mann, der Plüschpferde vermietet, auf denen Kinder über den Opernplatz hopsen, preist den Glauben, aber auf seine Weise – er erzählt Witze. "Frage an Radio Eriwan: ,Kann man als guter Kommunist auch ein guter Christ sein?' Antwort: ,Im Prinzip ja, aber warum wollen Sie sich das Leben doppelt schwer machen?' – Dieses Problem hat sich ja nun erledigt." Er lacht und hebt ein Mädchen auf eines seiner Pferde. Aus einer Karaoke-Bar gegenüber dem Opernhaus plärrt der alte "Wham"-Hit "Last Christmas", und eine Schar Tauben flattert über den Platz. Mit ihren ausgebreiteten Flügeln haben sie die Form kleiner Kreuze.


SPFA als Dachorganisation für den Deutschklub DAV

SPFA als Dachorganisation für den Deutschklub DAV
SPFA, eine NGO wurde im April 1990 von dem französisch-armenischen Pastor Samuel Sahagian, Paris, gegründet. Der Gegenstand der Organisation SPFA ist die Pflege der französischen und der deutschen Sprache. Der Deutschklub wurde dank Pfarrer Volkmar Jung in Eriwan im Oktober 1999, dank Pfarrer Volkmar Jung aus Deutschland, in Eriwan gegründet.